Remember Venice
Das Mosaik ist ganz einfach. Fünf Formen: Rhombus, Trapez,
kleines Quadrat, großes Quadrat, Dreieck. Fünf Farben: ocker, blau,
rot, grau, dunkel. Auf der einfachsten Stufe visuller Information
ergeben sich Teilmuster. Kleines Quadrat und Trapez bilden ein Malteserkreuz,
kleines Quadrat und Rhomben eine viereckige Schneeflocke. Das große
Quadrat, auf einer Spitze stehend, ist in ein anderes eingeschrieben,
zu dem sich jeweils vier Dreiecke zusammenfügen. Ein simples Muster.Vier
solche Mosaiken waren es, die Thomas
Hermsdorf in einem kleinen Nebenaltar der Basilika San Marco in
Venedig sah. Das Muster war immer dasselbe -- nur die Farben waren
verschieden.
"Nur" die Farben. Fünf Farben und fünf Muster sind 5! (1x2x3x4x5)
Kombinationen, sprich 120 Mosaiken. Hier auf dem Boden liegen sie,
hinten auf dem Bildschirm wechseln sie sich ab. Die Anordnung auf
dem Boden, auf dem Bildschirm ist beliebig. Zwei Möglichkeiten --
insgesamt gibt es etwa so viele, wie die Zahl am rechten Rand der
Seite angibt.
So simpel ist das. Man erstellt alle Farbkombinationen und legt
damit alle möglichen Patiencen, und schon kommt man mit der eigenen
Lebensspanne nicht mehr hin. Bei dieser
erschlagenden Vielfalt
schafft der interne Großrechner sofort Abhilfe,
gruppiert zu Bekanntem, überschlägt, überfliegt. Ach ja, Mosaik, alles
bekannt.
Überhaupt Malteserkreuze, Kreise, Schachbretter, Schneeflocken
--
denn bei jeder Farbkombination schreit ein Komplex so ausschließ-
lich nach Aufmerksamkeit, daß der Rest kaum noch wahrgenommen werden
kann. Wechseln sie sich auf dem Bildschirm ab, weiß die Zentrale
schon
bei Bild 2 nicht mehr, wie Bild 1 aussah, legt bald völlig die
Hände
in den Schoß, und dabei ist es immer d a s G 1 e i c h e ,
verdammt
noch mal, ganz einfach.
Ganz einfäch. Und wenn jetzt noch zusätzlich die Größenrelationen
sich ändern, fließend oder stufenweise? Die Farbtöne auch? Wenn das
Ganze in drei Dimensionen geht, wie bei den Modellen in der Vitrine?
Wenn man die einfache Regel aufhebt, daß eine Form überall auf dem
ganzen Bild eine einheitliche Farbe haben muß?
"Remember Venice" ist eine Auseinandersetzung mit dem
vermeintlich Einfachen, das bei der leisesten Konkretisierung sofort
ins Unüber- schaubare ausufert. Damit ist die Ausstellung auch eine
Wiederent- deckung der automatischen Verharmlosung, die im Uferlosen
immer wieder nur Malteserkreuze wahrnimmt und auch überall sonst auf
das ewige Gesetz des Erwarteten pocht. Wenn die Netzhaut dort beschädigt
ist, wo der Kopf eines Menschen wahrgenommen werden soll, ergänzt
das Gehirn freundlicherweise und automatisch die Tapete dahinter.
Gerade in der Kunst ist die Möglichkeit gegeben, visuel Gewohntes
gegen ständige Irritation auszutauschen. "Remember Venice" steht somit
mitten in der Kunst, an der Grenze zwischen Mathematik und Mystik.
Denn Muster sind allgegenwärtig, ob Schneeflocke, Kristall, oder DNS-Moleküle.
Die Natur legt sie uns vor, und wir Menschen schreiben sie ab, von
der Kimonoscherpe bis zum Meditationsbild. Sie gehören zu den ältesten
Formen, Information zu kodieren -- auch, und vor allen Dingen, solches
Wissen, das in keinem anderen Medium ausgedruckt werden kann. So führt
der Weg wieder vom Uferlosen zum Endlichen, vom Beliebigen zum Spezifischen
zurück. Es waren vier -- und nur vier -- Mosaiken auf dem Boden in
Venedig. Thomas Hermsdorf hofft, sie nun wieder zu finden, wo er erstmalig
alle möglichen Variationen vor sich sieht. Muster als Mandala -- wieviel
ist in dem gesamten Fußboden von San Marco kodiert, und was sehen
die Zen Mönche alles in dem geharkten Sand von Ryoanji Tempel? "Remember.Venice"
ist eine Erinnerung daran, wie tief selbst die "einfachsten" Muster
der Menschheit sind, und die Auseinander- setzung mit diesem angeblich
Einfachen lenkt den Blick wieder auf die Komplexität der Sinnzusammenhänge,
die uns umgeben.
Matthew Königsberg